von Jan Niklas Collet
Assur wird uns nicht retten. Wir wollen nicht mehr auf Pferden reiten und zum Machwerk unserer Hände werden wir nicht mehr sagen: Unser Gott. Denn nur bei dir findet ein Waisenkind Erbarmen. Ich werde ihre Abtrünnigkeit heilen; weil ich es will, liebe ich sie, denn mein Zorn hat sich abgekehrt von ihm. Ich werde für Israel sein wie der Tau, es wird sprossen wie eine Lilie, damit es Wurzeln schlägt wie der Libanon. Seine Triebe werden sich ausbreiten, dass seine Pracht wird wie der Ölbaum und sein Duft wie der des Libanon. Hos 14,4-7 Krisen, die alle Lebensbereiche betreffen, haben eigentlich noch immer zu gesteigerten theologischen Reflexionen geführt,[1] denn was Theologie reflektiert, ist das Leben und nicht ein unbestimmter und daher auch sehr manipulierbarer Ideenhimmel (was vielleicht sogar als gut platonischer Gedanke durchgehen könnte). Was aber gibt es theologisch in diesen Zeiten zu sagen? Wo ist das, was man vielleicht ihren theologischen Kern nennen könnte? Meines Erachtens ist dies nicht nur die Stunde der Theologie, es ist die Stunde der Theologie der Befreiung. Denn der klassische befreiungstheologische Topos der Götzenkritik hält meiner Meinung nach genau diejenigen Reflexionskategorien bereit, um jenem theologischen Kern auf die Spur zu kommen. Nicht in der Art einer Wiederholung dessen, was ohnehin bereits gesagt wurde. Sondern in einer Aktualisierung des Grundgedankens der biblischen Götzenkritik, den ja auch die Befreiungstheologie nicht erfunden, sondern wiederentdeckt hat. Jede Gesellschaft hat ihr Angebetetes. Die Frage aber ist: ist dieses Angebetete lebensstiftend oder todbringend, nimmt es den Tod hinweg oder das Leben? Biblisch wird hier unterschieden zwischen dem befreienden Gott des Lebens und den Götzen der Unterdrückung und des Todes.[2] Im Folgenden unternehme ich den Versuch, sozusagen durch diese Linse der biblischen Götzenkritik hindurch zu einer Annäherung an den theologischen Kern der im Zuge die Corona-Pandemie hereingebrochenen globalen Krisensituation zu gelangen. Die Gesellschaft als Form menschlichen Lebens Diese Krise bringt vieles ans Licht. Was deutlich wird, ist zunächst zweierlei. Zum einen, dass das Leben in Gemeinschaft auch in unserer hochindividualisierten spätmodernen Gesellschaft die spezifische Form menschlichen Lebens ist. Auch für diese Form gilt, dass sie nicht die Auflösung oder Ablösung von Strukturen bedeutet, sondern eben eine spezifische Gestalt dessen darstellt, worin sich menschliches Leben schon immer abgespielt hat und als genuin menschliches auch zukünftig abspielen wird. Das, was wir „Gesellschaft“ nennen und oft unsichtbar ist, wird nun deutlich als durchaus komplexe, bewegliche und veränderliche Struktur verschiedener Momente,[3] die sich wechselseitig bestimmen und erfordern. Die menschliche Biologie erfordert eine wie auch immer geartete Form der Ökonomie (des Stoffwechsels mit der Natur), der Politik (der Aushandlungen um die Gestaltung des menschlichen Zusammenlebens) und der Kultur (des musischen Sichverlierens und Sichgestaltens ebenso wie des theoretischen Nachsinnens); genauso schreibt sich umgekehrt etwa die Ökonomie tief in die biologischen Bedingungen des menschlichen Lebens ein – man kann es am Grund der venezianischen Kanäle sehen. Ohne den Anspruch zu erheben, damit eine umfassende Beschreibung und Analyse des menschlichen Zusammenlebens gegeben zu haben, so wird doch deutlich, dass diese komplexe Struktur jedes Individuum und die ganze Gesellschaft bis in die alltäglichsten Alltäglichkeiten hinein durchdringt (Stichwort „Klopapier“). Auch in einer hochindividualisierten Gesellschaft durchdringen wir uns gegenseitig, sind wir immer schon ineinander, noch bevor wir uns gegenüber sind. Das gleiche gilt von dem, was wir alltagssprachlich „Natur“ nennen, was es aber aufgrund dieser wechselseitigen Durchdringung – die „Natur“ ist in uns und wir in ihr –für das Wesen namens „Mensch“ in Reinform wohl niemals gab. Die Gesellschaft ist die Form menschlichen Lebens. Dies zunächst in einem allgemeinen anthropologischen Sinne – und von daher bringt diese Krise auch die spezifische, konkrete Form genau derjenigen Struktur ans Licht, in der wir leben: sie zeigt uns nicht nur, dass wir in Gesellschaft leben, sondern auch in welcher Gesellschaft wir leben. Sie zeigt es uns z. B. an der allein aufatmenden Natur, die sich kurz von dem Schaden erholen kann, den wir Menschen ihr im Normalzustand zufügen. Der Ausnahmezustand: Verschärfung, nicht Aufhebung des Normalzustands In diesem Sinne ist der derzeit erlebte Ausnahmezustand nicht als Aufhebung, sondern als Verschärfung des Normalzustands zu deuten. Wie Julia Lis und Andreas Hellgermann auf feinschwarz anmerkten, trifft diese Krise eben nicht alle gleich, sitzen in ihr nicht alle im selben Boot.[4] Diejenigen, die vor der Ausbreitung der Pandemie und dem folgenden lock down gut zurechtkamen, kommen tendenziell auch jetzt verhältnismäßig gut zurecht; wohingegen diejenigen, die vorher Not litten – die wohnungs- und die obdachlosen Menschen, die geflüchteten und illegalisierten Menschen, die Kranken, die von häuslicher Gewalt bedrohten Frauen und Kinder usw. – unter den Bedingungen der Krise tendenziell eher überproportional schlechter dastehen. Das ist ja der Grund, weshalb das öffentliche Leben heruntergefahren wird: dass im Ernstfall nicht genügend Kapazitäten zur Verfügung stehen, um alle Erkrankten mit schweren Verläufen (d.h. aus Risikogruppen) und alle übrigen zu versorgen, die ja auch versorgt werden wollen. Wenn die Verletzlichsten nicht sicher sind, ist im Ernstfall die ganze Gesellschaft bedroht. Bei uns sind die Verletzlichsten, wie jetzt jeder im Alltag feststellen kann, nicht sicher. Sicherheit, Macht, Freiheit und eben Verletzlichkeit sind ungleich verteilt. Nicht erst seit der Ausbreitung einer Pandemie ist das so, und nicht nur innerhalb des Territoriums der Bundesrepublik Deutschlands. Was ist mit all den Menschen, die keinen Zugang zu fließendem Wasser haben – wie in der Region Piura in Peru, wo eine enge Freundin sich derzeit befindet – und sich folglich die Hände nicht waschen können, weil Nestlé oder andere Konzerne den Zugang zur Wasserversorgung im Verein mit Regierungen privatisiert haben – was ist mit diesen Menschen? Das sind in der Regel keine „weißen“ Europäer*innen, das sind nicht-„weiße“ Menschen in Asien, Afrika und Lateinamerika, die die Herrschaft des Westens nicht erst seit Mitte März, sondern seit Jahrhunderten buchstäblich am eigenen Leib spüren. Was ist mit den Frauen, die überall auf der Welt die große Mehrheit der Arbeitnehmer*innen in den jetzt „systemrelevanten“ Berufen stellen, weil es sich eben um Sorgearbeit handelt, und die darum jetzt größeren Risiken ausgesetzt sind? Was ist mit den Alleinerziehenden, die ja vielleicht trotzdem noch zur Arbeit müssen, aber auch Schwierigkeiten haben dürften, eine Kinderbetreuung zu finden? Was ist mit den Kindern, die vom einen auf den anderen Tag keine Sozialkontakte in Kita und Schule mehr haben? Für manche von ihnen sind diese Stunden am Tag im Normalfall vielleicht sicherer als die restliche Zeit zu Hause. Was ist mit ihnen? Sicherheit, Macht, Freiheit und Verletzbarkeit waren auch vor Corona nach einer komplexen, heterogenen Matrix verteilt, von der jetzt einiges umso deutlicher wird: die Verteilung nach race-, class- und gender-Aspekten, nach Alter und körperlicher Verfassung… Diese multiplen Spaltungen gab es auch schon vor diesem sehr langen März, sie sind spezifisches Kennzeichen des globalen Kapitalismus als Machtmodell.[5] Es steht also eine Menge auf dem Spiel, weil auch vorher schon eine Menge auf dem Spiel stand. Die Gesundheit, die körperliche Unversehrtheit und das Überleben sehr vieler Menschen; jede und jeder wird jeweils für sich wissen, von wem ich rede – eine*r selbst, Menschen aus der eigenen Familie oder enge und weniger enge Freund*innen. Die Existenzbedingungen vieler Menschen aufgrund der globalen Rezession, in die wir geraten werden; Menschen, die ihre Arbeit verlieren werden oder schon verloren haben. Auch hier ist die Verteilung wieder sehr ungleich. Ich persönlich kenne z.B. Mexico City recht gut und frage mich, was geschieht eigentlich mit den Millionen von Menschen, die ihre Brötchen im sogenannten informellen Sektor verdienen – die sich vielleicht ein Taxi zusammengespart haben und privat fahren; die vielleicht am Straßenrand für ein paar Pesos Tortillas verkaufen und das bald vielleicht kaum mehr können, weil keine Menschen mehr auf der Straße sein werden. Diese Menschen haben ohnehin schon von der Hand in den Mund gelebt, sie haben keine Rücklagen, vielleicht für eine Woche, und dann? Privateigentum: Fiktion und Strukturprinzip kapitalistischer Gesellschaft zugleich Das Zauberwort ist „Privateigentum“. Da hatte Marx schon ganz Recht. Alle, die meinten und meinen, die Gesellschaft sei heute eine „ganz andere“ als 1850, die mögen doch auch einmal in die Gesichter der Besitzlosen dieser Erde schauen, in ihre Münder – schaut euch die Zähne an! – und auf ihre Füße. Man beuge sich einmal ernsthaft hinab. Oder fragen Sie die Kleinunternehmerin um die Ecke, die ihre Angestellten nicht mehr bezahlen kann und selbst von der Pleite bedroht ist. Oder die Musiker*innen und Künstler*innen, die freelancer, denen vom einen auf den anderen Tag die „Aufträge“ (das Privateigentum der Anderen) weggebrochen sind. Privateigentum ist immer eine abgeleitete und gefährdete Leihgabe. Ein Privateigentum, das es gibt, gibt es nicht. Es ist ein in Medien – dem Zugang zu Lebensmitteln, Gesundheitsversorgung, Kultur, Naturerleben u. a. – kondensiertes, komplexes Machtverhältnis, die Organisation zwischenmenschlicher Abhängigkeit, die sich, wie wir jetzt in unseren je eigenen Leben feststellen können, im Ungleichgewicht befindet. Nach wie vor ist das diese machtvolle Fiktion namens Privateigentum das grundlegende Strukturprinzip kapitalistischer Gesellschaft, deren Teil wir alle in der einen oder anderen Weise sind: Es ist sozusagen das Nadelöhr, durch das hindurch die oben beschriebene ungleiche Verteilung einer heterogenen Matrix (race, class, gender, Alter, körperliche Unversehrtheit etc.) sich in die Körper einschreibt, durch das hindurch sie gerinnt in unsere Leben und Existenzen hinein. Macht, Sicherheit, Freiheit, Verletzbarkeit – sie werden gesellschaftlich vermittels dessen verteilt, was wir Privateigentum nennen. Weil diese Verteilung extrem ungleich ist, ist dieses Strukturprinzip prekär, und da dieses Strukturprinzip prekär ist, ist auch die Verteilung der Prekarität ungleich. Es ist dies, was auf verschiedenen Ebenen reale Angst um das eigene (Über-)Leben auslöst: Angst vor der Erkrankung, Angst vor dem Verlust von Freund*innen und Angehörigen, Angst vor Jobverlust oder Insolvenz, Angst vor Hunger und Gewalt… Gewiss hat es Krankheiten und Armut auch vor dem Kapitalismus gegeben. Aber dieses „Argument“ beweist ja nur, dass es vor lauter Nicht-mehr-weiter-Wissen von der Realität wegschaut, die uns umgibt, um mit dem Finger auf Könige aus längst vergangenen Tagen zu zeigen. Das Bedürfnis, "dass es aufhört" und der Ruf nach der Autorität Wie werden mir mit dem sozialen Druck umgehen, der – je länger, je mehr – steigen dürfte? In welcher Gesellschaft werden wir leben, vielleicht in fünf Jahren oder in zehn? Es gibt hier keinen Automatismus. Man kann ja auch auf die immerhin spontanen Zeichen der Solidarität verweisen, die es ja in aller Begrenztheit und Fraglichkeit durchaus gibt (wie die Nachbarschaftshilfen oder, ja, auch das tägliche Klatschen). Aber man mache sich nichts vor. Nicht unwahrscheinlich, dass mit zunehmender Zeit das Bedürfnis wachsen wird, „dass es aufhört“ – und in diesem Fall werden auch der Ruf nach einem Souverän, der über den Ausnahmezustand entscheidet, lauter und die Bereitschaft der „freiwilligen“ Unterwerfung größer werden. Wenn aber der Ausnahmezustand die Verschärfung des Normalzustands ist, steckt hinter diesem Wunsch nach der Aufhebung des Ausnahmezustands eigentlich der Wunsch, dass der Normalzustand aufhört. „Ausnahmezustand“ verwende ich dabei nicht als juristischen Begriff (den es jedenfalls nach deutschem Recht ja mit gutem Grund auch nicht gibt). Es kennzeichnet ihn ja, so Carl Schmitt, dass über ihn entschieden wird, was etwas anderes ist als ihn für beendet zu erklären.[6] Falls es einen Ausnahmezustand geben sollte, werden wir es erst dann wissen, wenn er durch die Entscheidung einer Autorität gerade im Namen des Normalzustandes, also innerhalb von dessen Deutungskategorien, ausgerufen wurde. Das ist ein Beleg für die These, dass der Ausnahmezustand die Zuspitzung und nicht die Aufhebung des Normalzustands ist, in dem wir uns nach wie vor befinden. Der Ruf nach der „Autorität“ zielt also auf das Ende der Angst, der Not, des sozialen Drucks, die in der ungleichen Verteilung von Macht ihre Ursache haben, und zwar paradoxerweise durch eine politische Verschärfung der gegebenen Machtasymmetrien. Der Weg der Autorität als ein weiterer Schritt in der Dynamik der Opferung Der Weg der Autorität geht daher immer mit einer Dynamik der Opferung einher, mit Disziplinierung und Ausübung von Zwang und Gewalt. Die autoritäre Antwort löst also nicht das Problem. Im Gegenteil, sie ist bloß ein weiterer Schritt in jener Dynamik der Opferung, die den globalen Kapitalismus auch im Normalzustand kennzeichnet. Schon Walter Benjamin kennzeichnete den Kapitalismus als Schuldkult.[7] Wir können beobachten, wie Recht er damit hatte. Zweifelsohne ist es gut und richtig, dass jetzt viele Gelder freigegeben werden, um Menschen in den verschiedenen Notlagen zu stützen. Die Ohren (nicht nur) von Theolog*innen müssen aber klingeln, wenn die Lösung der Krise „Verschuldung“ sein soll. Wer wird diese Schulden am Ende begleichen? Die im Kapitalismus normale Dynamik kennen wir bereits aus den Finanz- und Schuldenkrisen der Vergangenheit: es werden nicht die großen Banken sein. Keine Automatismen: Die Krise als kairós Der Weg der Autorität ist aber, wie gesagt, kein Automatismus, sondern es kommt darauf an, was Menschen jetzt tun, wie sich die Kräfteverhältnisse entwickeln. Jede Krise ist auch ein Moment der Gestaltung, kairós, der ergriffen werden muss. Dabei geht es allgemein um die Auseinandersetzung mit den Aporien, die schon den Normalzustand kennzeichnen: das Privateigentum und seine ungleiche Verteilung nach einer patriarchalen, rassistischen und kapitalistischen Matrix. Eine Möglichkeit, die der Konflikt nicht schrickt: Krisenbearbeitung im Modus universaler Solidarität Ist aber die verschuldende Dynamik des Normalzustandes erkannt, kann demgegenüber nur eine allgemeine, solidarische und von Lohnarbeit unabhängige Daseinsvorsorge das Ziel sein. Der Schutz der Verletzlichsten ist der einzige Schutz, der uns alle schützt. Und nur ein Schutz, der uns alle schützt, schützt auch die Verletzlichsten. Ein solcher Schutz ist nur möglich in einer Überwindung des globalen kapitalistischen Machtmodells, durch eine sanktionsfreie allgemeine Daseinsvorsorge, die Zugang zu Gesundheitssystem, Nahrungsmitteln, Kultur und Naturerleben für alle garantiert. Das heißt, man muss „den Armen von seiner Armut und den Reichen von seinem Reichtum befreien.“[8] Man mag diesbezüglich skeptisch sein. Aber Skepsis ist kein sachliches Argument, es ist eine Haltung gegenüber einer Realität, die es zu gestalten gilt. Gerade aus einer skeptischen Position heraus kann sich doch nicht die Einwilligung in die Unmöglichkeit des Möglichen ergeben, sondern sie muss doch zur Frage führen, wie die Möglichkeit des Unmöglichen Wirklichkeit werden kann. Natürlich: die Herrschenden, die Kapitalist*innen und auch eine ganze Reihe von Nutznießer*innen werden ihre Macht und Privilegien nicht einfach so, fröhlich freiwillig hergeben. Jede*r prüfe sich selbst. So oder so wird es zu sozialen Konflikten bzw. zu einer Verschärfung der ohnehin bestehenden sozialen Konflikte kommen. Die Fragen mögen für manche von uns, die sich in der Fiktion einer universalen bürgerlichen Welt eingerichtet haben, unbequem sein, manch eine*r mag und wird vor ihnen zurückschrecken und es bereits für „radikal“ halten, sie überhaupt nur zu stellen. Aber dies geschieht ja nicht aus einer Lust am Untergang oder dergleichen, sondern sie drängen sich schlicht und einfach auf angesichts der Realität, die uns umgibt. Wie ist es zu beurteilen, wenn Hotels und Häuser besetzt werden? Wie, wenn ein Supermarkt geplündert wird? Welche Position nehme ich ein, wenn es um die Abschaffung von Hartz IV geht oder die Enteignung großer Industrie- oder Immobilienkonzerne? Wie bewerte ich es, wenn es um das Recht auf (globale) Bewegungsfreiheit geht? Wie stehe ich zur Inbetriebnahme des Kraftwerks Datteln IV oder der Umsiedlung der Dörfer um die Tagebaue Hambach und Garzweiler? Und was bin ich bereit, im Rahmen der Beantwortung dieser Fragen einzusetzen? Vom befreienden Gott und den Götzen der Unterdrückung oder: was Leben gibt und Leben nimmt Diese Fragen bewegen sich im Spannungsfeld von Autorität und Solidarität – sie taten dies auch vorher schon. An ihnen (und weiteren Fragen) wird die Antwort, die wir auf diese Krise einmal gemeinsam gegeben haben werden, schon heute konkret verhandelt. Gemäß der tiefen wechselseitigen Innerlichkeit aller Gesellschaftsmitglieder, aller Individuen weltweit und der Natur handelt es sich dabei nicht um je mir äußerlichen Fragen. Sie durchdringen mein eigenes Leben, sie durchziehen und prägen meinen Alltag. Indem dies deutlich wird, zeigt sich aber auch, dass eine andere Welt notwendig ist: nicht nur für die Anderen, für die Fernsten, für die Flüchtlinge auf wackligen Booten, die Packetboten, die Menschen ohne Zugang zur Wasserversorgung, die in der Sorgearbeit tätigen Frauen, die von Krieg und Gewalt und Entbehrung Betroffenen – sondern für das Leben jeder und jedes Einzelnen von uns. Der theologische Kern dieser Krise liegt nicht in einem irgendwo über diesen Fragen freischwebenden Bereich, er liegt mitten in ihnen, in der Frage, woran wir – individuell und gesellschaftlich – unser Herz hängen; was Leben gibt und was Leben nimmt. Von daher ist, theologisch gesehen, jetzt die Zeit für Götzenkritik, d.h. die Kritik derjenigen todbringenden Mächte und Gewalten, die menschengemacht sind und doch den Nimbus göttlicher Macht angenommen haben. Ja, in dieser Pandemie stecken sehr viel Angst und Unsicherheit. Sie entbirgt aber auch eine weit größere Verheißung: Privateigentum wird uns nicht retten. Wir wollen nicht mehr Panzer fahren und zum Börsenkurs werden wir nicht mehr sagen: Unser Gott. Denn nur bei dir findet ein Waisenkind Erbarmen. Ich werde ihre Abtrünnigkeit heilen; weil ich es will, liebe ich sie, denn mein Zorn hat sich abgekehrt von ihm. Ich werde für Israel – für die Menschen, die das Leben anbeten statt toter Götzen – sein wie der Tau, es wird sprossen wie eine Lilie, damit es Wurzeln schlägt wie der Libanon. Seine Triebe werden sich ausbreiten, dass seine Pracht wird wie der Ölbaum und sein Duft wie der des Libanon. [1] Regina Polak, Corona und die Frage nach Gott, in: https://theocare.wordpress.com/2020/03/25/corona-und-die-frage-nach-gott-regina-polak/ (Zugriff 03.04.2020) [2] Zum befreiungstheologischen Motiv der Götzenkritik vgl. Hugo Assmann u. a. (Hg.), Die Götzen der Unterdrückung und der befreiende Gott, Münster 1984. [3] Vgl. Ignacio Ellacuría, Philosophie der geschichtlichen Realität, Mainz 2010, 155-269. [4] Andreas Hellgermann / Julia Lis: Universale Solidarität. Wider der Feindeslogik des Ausnahmezustands, in: https://www.feinschwarz.net/universale-solidaritaet-wider-der-feindeslogik-des-ausnahmezustands/ (Zugriff 01.04.2020) [5] Vgl. Aníbal Quijano, Colonialidad del poder y clasificación social, in: Journal of world-system research (11) 2000/2, 342-386; María Lugones, The Coloniality of Gender, in: Worlds & Knowledges Otherwise 2008/2, 1-17. [6] Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, München – Lepizig 1934, bes. 49-66. Man braucht Schmitt normativ lange nicht zuzustimmen, wenn man meint, dass er etwas erkannt habe. Welche Konsequenzen man daraus zieht, ist eine ganz andere Frage. Ich denke, von meinen Überlegungen her dürfte klar sein, dass ich mit den autoritären Träumen Schmitts nicht im Geringsten etwas zu tun habe. Seine Überlegungen zum Ausnahmezustand sind interessant, bleiben bei ihm aber theoretisch völlig unvermittelt und münden geradezu in einen autoritären Machtkult, den ich ja gerade ablehne. [7] Vgl. Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion. Fragment (1921), in: Gesammelte Schriften, Hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. VI., Frankfurt am Main 1991, 100-102. [8] Ignacio Ellacuría, Geschichtlichkeit des christlichen Heilss, in: Ders. / Jon Sobrino (Hg.), Mysterium Liberationis. Grundbegriffe der Theologie der Befreiung, Luzern 1995, 313-360, hier 356. jan niklas collet ist mitglied des ak politische theologie und wissenschaftliche hilfskraft am institut für katholische theologie der universität zu köln (lehrstuhl für systematische theologie).
2 Kommentare
4/12/2020 03:34:27 pm
Das ist ja alles nicht falsch, was Sie schreiben, lieber Jans Niklas Collet, vieles finde ich sogar gut. Aber das hätte man auch alles so vor zwei Monaten schreiben können. Vor zwei Monaten hätten sich aber die wenigsten von uns eine Situation vorstellen können, wie wir sie gegenwärtig erleben: Das ist aus meiner Sicht nicht nur eine "Verschärfung des Normalzustandes". Wer angesichts dieser Situation nicht ein, zwei neue Kategorien in seine Gedankenwelt einpflegt, wird dem, was grad passiert, nicht gerecht - denke ich.
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jan niklas collet
4/14/2020 09:03:30 am
Lieber Herr Fleischmann, vielen Dank für Ihren Kommentar. Ich habe dazu zwei Gedanken. Der erste betrifft Ihre Anmerkung dazu, dass sich die wenigsten eine solche Situation hätten vorstellen können. Das ist natürlich richtig. Es gab aber schon Gruppen, die davor gewarnt haben. Nicht vor einer Pandemie und sozusagen auf längere Frist - aber die Klimabewegung z. B. warnt doch seit Jahren, Jahrzehnten davor, dass wir u. U. aus meinetwegen anderen Gründen vor ähnlichen Szenarien stehen könnten. Die sind aber als Unglückspropheten oder jugendliche Schwärmer abgetan worden. Von daher finde ich das Verb "vorstellen", das Sie benutzen, auch so passend: ich denke, hier handelt es sich um einen kollektiven Mangel an Vorstellungskraft. Das widerspricht m. E. nicht meinem Gedanken, dass sich die politischen Folgen gerade als Zuspitzung des Normalzustands darstellen. Auf so eine Situation war niemand eingestellt. Business as usual. Der zweite Gedanke bezieht sich auf die neuen Kategorien und ist eigentlich eher eine Frage - da würde mich einfach interessieren, ob Sie da etwas konkretes im Sinn haben?
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